Interview mit Irmtraud Schnell

Wie bist du denn selber zur integrativen Pädagogik gekommen?

Lehrerin im sozialen Brennpunkt

Es gab persönliche, berufliche und politische Wegweiser:

Die erste wichtige Station war meine Tätigkeit als Grund- und Hauptschullehrerin in Wuppertal Anfang der 1970er Jahre, zunächst die Arbeit in einem sozialen Brennpunkt in einer Grundschule; es war ein sozialer Brennpunkt, wie es ihn hoffentlich nirgends mehr gibt in Deutschland. Ich bin nicht in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, aber dass in Deutschland Kinder in solchen Bedingungen aufwachsen, das lag außerhalb meines Horizontes und eigentlich sollte es zur Ausbildung von PädagogInnen gehören, sich auch ganz konkret mit anderen als ihren eigenen, meist bürgerlich-mittelschichtlichen Lebensbedingungen auseinanderzusetzen. Privat bewegte ich mich gleichzeitig im Kreis von »leitenden Angestellten« einer großen Forschungsabteilung. Bei entsprechenden Einladungen im Kollegenkreis zeigte sich mir die Diskrepanz der Lebensverhältnisse in Deutschland in krasser Form. Die Frage der Gerechtigkeit wurde so zu meinem zentralen Thema. Und es ist der Motor für mein Engagement auch heute noch.

Werdegang: Von der Grundschule zur Sonderpädagogik

In meinen ersten Dienstjahren habe ich Fernsehberichte über schwedische Schulen gesehen, die in einer Schule einen Raum, eine Art Lernwerkstatt hatten, zu der die Kinder, die an dem Tag irgendwelche Schwierigkeiten hatten, auch selbstgewählt hinkommen konnten – also anders, als der Time-Out-Raum heute. Und da habe ich gedacht, das ist so vernünftig, das wird in Deutschland bestimmt auch bald eingerichtet. Zur ähnlichen Zeit hatte ich einen sehr schwierigen Schüler in meiner Klasse; für die Klasse und für mich war er insofern schwierig, als er weder Gruppenunterricht noch Frontalunterricht länger als eine Stunde ertrug. Solch eine schuleigene Lernwerkstatt wie in Schweden oder solch ein Projekt wie »Übergänge“ in Berlin, das hätte allen geholfen, aber das gab es damals nicht. Der schulpsychologische Dienst hat im Rahmen eines Lehrertrainings, das ich besuchte, meinen Unterricht beobachtet. Ich habe mich bemüht, ihn zu halten, und die Klasse war schon richtig gut darin, ihn anzunehmen, aber letztlich leitete ich das Überprüfungsverfahren ein und er kam zur Schule für Erziehungshilfe. Dass er nicht mehr da war, das fand die Klasse merkwürdig, aber gleichzeitig fühlte sie sich natürlich entlastet von den vielen Unterbrechungen des Unterrichts. Solche Kinder in meiner Klasse dauerhaft halten zu können, wollte ich lernen, um dann wieder in die Grundschule zu gehen.

Studium der Sonderpädagogik

Ich folgte ihm also in die Sonderpädagogik, studierte Erziehungsschwierigen- und Lernbehindertenpädagogik in Köln und arbeitete dann zunächst einmal fast 10 Jahre in einer Schule für Erziehungshilfe.

Politischer Umbruch

Die nächste Wegmarke nahm ich nach dem Regierungswechsel im Saarland auf, wo ich seit Anfang der 1980er Jahre lebte. Die SPD übernahm erstmals die Regierung. Auch im Wahlkampf war eine andere Bildungspolitik schon zentrales Thema gewesen. Diether Breitenbach, der zuvor einen Lehrstuhl für Psychologie an der Saarbrücker Universität innehatte und mit Alfred Sander und Hans Meister im Gespräch war, wurde Kultusminister.

Und wann war das dann?

Beginn der Integration im Saarland

Der Regierungswechsel wurde 1985 vollzogen. Seit der Versetzung ins Saarland arbeitete ich an einer Schule für Schwerhörige. Nach ein paar Wochen führte Diether Breitenbach bei einer Veranstaltung der GEW aus, dass ihm Integration ein zentrales Anliegen sei. Kurz darauf forderte er auf einer Veranstaltung von »gemeinsam leben“ Lehrkräfte und Eltern auf, die Möglichkeit zur Integration aufzugreifen: »dann fangt doch mal an«. Und wenig später wollten dann Eltern von zwei Schülerinnen »meiner« Klasse ihre Kinder in die allgemeine Schule bringen. Bei einem Mädchen, muss ich heute gestehen, war ich skeptisch, die Schülerin war gehörlos und lautsprachlich aufgewachsen, ihre Integration an einer Gesamtschule verlief aber wunderbar erfolgreich. Bei dem anderen Mädchen habe ich den Schulwechsel sehr unterstützt und erlebte dann, wie innerhalb von ein paar Wochen ein Kind ein anderes Kind werden kann, wenn sein Bedürfnis nach Kommunikation nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von anderen Kindern erfüllt wird, beziehungsweise das Bedürfnis nach Kommunikation überhaupt erst richtig geweckt wird durch andere Kinder. Zum Beispiel fing sie an zu telefonieren, was sie zuvor vermieden hatte.

Zurück ins Saarland: Man muss sich die bildungspolitische Landschaft nach einem solchen von vielen lang ersehnten Wechsel als sehr lebendig, diskursiv und voller Initiativen vorstellen: Eine solche Initiative war eine Arbeitsgemeinschaft, angeboten von Uni und Lehrerfortbildungsinstitut, die sich über mehrere Jahre hinweg regelmäßig traf, und in der Grundschullehrkräfte beziehungsweise Lehrkräfte anderer allgemeiner Schulen und SonderpädagogInnen in der Praxis aufkommende Probleme der Integration besprochen, Lösungen gesucht und für differenzierenden Unterricht geeignete Materialien ausgetauscht haben. Es war so Vieles wirklich total neu, aber von Breitenbach sehr gestützt. Er hatte ja von der Universität her engen Kontakt zu Alfred Sander und zu Hans Meister und berief eine Kommission »Integration behinderter Schülerinnen und Schüler in der Schule« (IBS), die Alfred Sander leitete. Sein Lehrstuhl und das Lehrerfortbildungsinstitut bekamen zusätzliches Personal, um schulische Integration theoretisch, inhaltlich-praktisch und politisch weiter voranzutreiben und auch von den Strukturen her, also auch im Gesetzestext vorbereiten zu können. Hans Meister leitete das Projekt »Integration behinderter Kinder im Elementarbereich« (IBKE) und verfügte ebenfalls über einen größeren Stab an MitarbeiterInnen, um Integration in Kindertagesstätten zu entwickeln und zu implementieren.

Integration in Kindergärten

In diesem Zusammenhang habe ich Integration in Kindergärten kennengelernt und sah auch dort, dass die Qualität der Erziehung und Bildung für alle Kinder, also der Blick auf deren Verschiedenheit und die Antwort darauf, darüber entscheidet, wie einfach oder schwer die Integration behinderter Kinder empfunden wird; im Vergleich zur Arbeit in den Schulen nahmen die PädagogInnen dort die Kooperation verschiedener Berufsgruppen als selbstverständlich auf. So sammelte ich nach und nach Erkenntnisse über Bedingungen des Gelingens integrativer Pädagogik. In Kindergärten wurden mir insbesondere die willkommende Haltung allen Kindern gegenüber und die Fähigkeit zur Kooperation als wesentliche Pfeiler deutlich.

Gemeinsam leben – gemeinsam lernen

Es gab einen Verein im Saarland, der hieß »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen«, da bin ich eingetreten und nahm an den Versammlungen teil. Daraus wurde dann später der Verein »Miteinander leben lernen« e. V. (MLL), in dessen Vorstand ich immer noch mitarbeite. Das gewährleistet meine Bodenhaftung, da bekomme ich mit, welche Probleme manche Eltern immer noch haben, mit ihrem behinderten Kind in den Kindergärten oder in der Schule überhaupt anzukommen, welche Hürden sozial-emotional, aber auch strukturell und finanziell zu nehmen sind und ganz allgemein: wie weit wir von Inklusion entfernt sind, sowohl politisch-gesellschaftlich als auch in der Praxis der Institutionen, dass es aber auch – manchmal vollkommen unerwartet – Entwicklungen vor Ort gibt, die Hoffnung machen. Und dass die Öffentlichkeitsarbeit für Integration/Inklusion eine ständige Aufgabe bleibt.

Widerstand der SonderpädagogInnen gegen Integration

Ich arbeitete seit 1987 als sogenannte Integrationslehrerein mit ganzer Stelle in allgemeinen Schulen – die Stammschule war weiterhin die Sonderschule. Dort habe ich große Schwierigkeiten bekommen, weil ich mich eindeutig für Integration aussprach. Als Vertreterin der GEW-Fraktion im Personalrat Sonderschulen habe ich zum Beispiel bei Personalversammlungen das Thema Integration eingebracht und lernte die enormen Widerstände der SonderschullehrerInnen gegen schulische Integration kennen. Insbesondere habe ich nachgefragt, wenn so allgemein Schwierigkeiten der Integration ins Feld geführt wurden – auch heute noch empfiehlt sich nachzufragen; Gerüchte über Integration bzw. heute Inklusion werden pauschal weitergetragen und nicht selten erweisen sie sich als haltlos, wenn Konkretion gefordert wird. In der Personalversammlung wurde z. B. auf meine Nachfrage hin deutlich, dass der Referatsleiter Sonderschulen unter »Abbrüchen von Integrationsmaßnahmen« auch bestandene Abiture zählte. An meiner Stamm-Sonderschule wuchsen meine Schwierigkeiten bis zum Redeverbot in der Konferenz, und bis auf eine winzige Gruppe haben sich die KollegInnen dergestalt entlarvt, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, sie seien in erster Linie an der Institution interessiert und weniger an Kindern.

In Zusammenhängen bildungspolitischer Aktivitäten habe ich Alfred Sander kennengelernt. Als stellvertretende Landesvorsitzende der GEW und Fachgruppenvorsitzende gab es viele Gelegenheiten, bei denen wir zusammen kamen, bei Veranstaltungen, die die GEW ausrichtete, oder an der Uni, wo die Projekte IBS und IBKE integrationspädagogische Kolloquien veranstalteten, oder wenn wir uns über Stellungnahmen zu Gesetzesvorschlägen austauschten. Einmal haben wir anlässlich eines Jubiläums der Integrativen Schule Frankfurt in Frankfurt zusammen einen Dialogvortrag über Kooperation gehalten, und, ja leider ein bisschen arg spät für mich, also für eine universitäre Laufbahn viel zu spät, wurde ich dann für fünf Jahre Alfred Sanders wissenschaftliche Mitarbeiterin. Es war eine ganz besonders wertvolle Erfahrung, ihn als Chef zu haben. Er schlug mir vor, zu promovieren.

Arbeit zur Geschichte der Integration

Der Widerstand der SonderschullehrerInnen gegen schulische Integration, den ich nicht begreifen konnte und wollte, und die mittlerweile veränderte Politik der Landesregierung gaben mir notwendigen Rückenwind und die Ausdauer, mein Thema – ich habe ja zur Geschichte der Integrationsbewegung promoviert – auszuarbeiten. Was die Auseinandersetzungen mit anderen Lehrkräften und in bildungspolitischen Zusammenhängen erreichten, waren eine Präzisierung und Differenzierung meiner Haltung zur Integration Inklusion. Von daher möchte ich sie nicht missen und empfehle jedem jungen Menschen – vielleicht etwas behutsamer als ich – sich zu positionieren und notwendigen Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg zu gehen.

Als Mitarbeiterin von Alfred Sander fing meine eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit an. Natürlich war ich als Bundesvorsitzende der Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe der GEW, die ich seit Ende der 1980er Jahre war, zu Stellungnahmen und Vorträgen aufgefordert, auf die ich mich entsprechend vorbereitet habe, habe an vielen Diskussionen teilgenommen und im Osten wie im Westen Deutschlands Tagungen zur Integration vorbereitet und durchgeführt. Die Zusammenarbeit mit anderen schulischen Fachgruppen gab mir einen Einblick in ihre Positionen und Widerstände. Ich besuchte auch die Integrationsforschertagungen, aber mit der Arbeit an der Uni in Saarbrücken begann 1995 die intensive Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen zur Integration und mit der Geschichte dieser sozialen Bewegung.

Wie war es eigentlich innerhalb der GEW? War es ein Konsens innerhalb der Sonderpädagogen-Vertreter, dass es Integration sein soll?

GEW

Als Bundesvorsitzende der Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe habe ich auch an Sitzungen des Hauptvorstands der GEW teilgenommen. Das war insofern aufschlussreich, als da ja alle Schulformen vertreten sind und alle Bereiche, also Jugendhilfe und Sozialarbeit, Frauen, Senioren. Die GEW insgesamt war ein wichtiger Streiter für Integration in der Geschichte der Integrationsbewegung und ich blieb in dieser Tradition, die zuvor von Peter Pape und davor von Walter Bärsch – er war übrigens vom Schüler einer Hilfsschule zum Professor für Pädagogik der Erziehungsschwierigen »aufgestiegen« –, entwickelt worden war: beide sahen Integration als Mittelpunkt der Sonderpädagogik, auch wenn nicht alle GEW-Mitglieder im Bereich Sonderpädagogik diese Position teilen konnten. Die GEW insgesamt trug die Ausrichtung mit.

Die Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe der GEW befasste sich mit den Bedingungen für die Kinder, für die Lehrkräfte, sie interessierte sich für Strukturen, z. B. für die Lehrerbildung für Integration im Bereich Sonderpädagogik, sie entwickelte Positionen und entwarf Papiere als Diskussionsgrundlage in der Organisation. Einige Jahre lang haben wir als Online-Angebot die Schulgesetze bzw. Verordnungen der Bundesländer im Zusammenhang Integration gesammelt und die tatsächlichen Entwicklungen kommentiert; das war insofern ermutigend, als wir immer in einem oder mehreren Bundesländern Fortschritte vermelden konnten. Und wir haben mit den Fachgruppen der anderen Schulformen zusammen gearbeitet, um deren Verständnis dafür zu fördern, was Integration bedeutet – umgekehrt profitierten wir davon, die Sonderpädagogik in ihrer Rolle im Schulsystem zu verstehen. Es gibt in allen Verbänden einen Unterschied in der Positionierung auf der Bundesebene und der in den Landesverbänden und erst recht Unterschiede in der Arbeit vor Ort in den Schulen und in den Personalräten. Momentan kann die GEW in den verschiedenen Landesverbänden leider nicht mehr überall eindeutig als Vorreiter der Inklusion ausgemacht werden.

Die Integrationsbewegung hat im Nachdenken über ausgleichende Erziehung und Bildung einen wichtigen Teil ihrer Wurzeln. Es war zunächst – Ende der 1960er Jahre – eine Bewegung für eine gemeinsame Schule, in der Kinder mit abweichendem Lernen und Verhalten nicht ausgesondert wurden – die Normalitäts- und Begabungsvorstellungen beherrschten zur damaligen Zeit die Köpfe noch wesentlich stärker als heute. Mit dieser Bewegung wurde ich schon im ersten Studium Ende der 1960er Jahre befasst, es gab damals in Baden-Württemberg, wo ich studierte, zwei Gesamtschulen. Aber danach war ich mehr auf Grundschulpädagogik beziehungsweise auf meinen Berufseinstieg konzentriert.

Wenn ich resümieren sollte: Wichtige Stationen waren die eigene Berufstätigkeit als Lehrerin in Grundschulen, frühe Begegnungen mit der Umsetzung integrativer Pädagogik in Israel, als Sonderpädagogin in Sonder- und allgemeinen Schulen, die Wahrnehmung unterschiedlicher sozialer Bedingungen, meine Erfahrung in bildungspolitischen Auseinandersetzungen und natürlich die Präzision von alledem in der Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin zunächst von Hans Meister und später von Alfred Sander. Daraus kristallisierten sich meine Interessenschwerpunkte: Es waren und sind das Verhältnis von allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik, die Gestaltung integrativen Unterrichts und der Platz der Kinder, die von zu Hause aus nicht auf die Schule vorbereitet werden (können) und schlechtere Startbedingungen, auch in finanzieller Hinsicht, haben, die aber das gleiche Recht auf Bildung, auf eine gute Bildung, auf eine vielseitige Bildung haben und die eigentlich sowohl im Kindergartenalter, als auch in der Schule eine noch viel bessere und umfassendere und ihre Potenziale hebende und würdigende Bildung bräuchten als die anderen, die von zu Hause besser gestellt sind. Das Thema Recht auf umfassende Bildung – eben nicht in Form von Teaching to the test – und Bildungsgerechtigkeit war über die ganze Zeit, also von Beginn meiner Schulzeit als Lehrerin an, bis heute, das zentrale Thema für mich; nicht im Sinne einer gleichen Förderung aller, sondern im Sinne des Ausgleichs. In dieser Hinsicht hat das Wissen, das PISA 2000 erbracht hat, keine ernsthaften Konsequenzen nach sich gezogen, obwohl verschiedene Gremien von WissenschaftlerInnen sie über Jahre gebetsmühlenartig anmahnten. Dramatisch finde ich, dass die Fächer, in denen die Chance bestünde, gemeinsam grundlegende bildende Erfahrungen, kognitive und emotional-soziale, zu machen wie Musik, Sport und Kunst in den letzten 20 Jahren an den Rand gedrängt wurden. Chancen nicht auszugleichen ist aberwitzig kurzsichtig und auf Dauer die Gesellschaft schädigend.

Und du hattest Lernhilfe und Erziehungshilfe studiert in Köln oder was hattest du für sonderpädagogische Fachrichtungen?

Fachrichtungen

Ja, Lernbehindertenpädagogik und Erziehungshilfe waren meine Fachrichtungen und später noch Hörgeschädigtenpädagogik, die ich berufsbegleitend in Heidelberg studiert habe.

Bildungspolitik im Wandel

Nach den fünf Jahren als Mitarbeiterin von Alfred Sander kam ich wieder in die Schule. Als Alfred Sander um eine Verlängerung der Abordnung an die Uni bat, hat der damalige Referatsleiter im Ministerium seine Ablehnung unter anderem damit begründet, dass ich mich kritisch über das Saarland geäußert hätte, er meinte damit die saarländische Integrationspolitik, die sich mittlerweile stark verändert hatte. Breitenbach, der ein anderes Ressort übernommen hatte, wurde Mitte der 1990er Jahre noch einmal für Bildung zuständig. Bei diesen Wechseln wurde nicht nur mir deutlich, wie stark einzelne Personen, auch wenn sie der gleichen Partei angehören, die Bildungslandschaft in unterschiedlicher Weise prägen können. Unter der Ministerin Marianne Granz (SPD) ging es zum Beispiel um »Zeugnisgerechtigkeit«. Das Ministerium verlangte, den integrierten Kindern Zeugnisse der entsprechenden Sonderschulen auszustellen, was dazu führte, dass Fächer, in denen die integrierten Kinder mitarbeiteten, gar nicht bewertet werden konnten und andererseits Fächer der Sonderschule, zum Beispiel Rhythmik, im Fächerkanon der allgemeinen Schule gar nicht auftauchten. Vorher hatten die integrierten Kinder genau die gleichen Zeugnisse erhalten wie die Klasse, mit einem Vermerk bezüglich des Förderschwerpunktes. Da haben wir in der Personalratsfraktion der GEW ganz schnell ein Plakat entworfen und an die Schulen geschickt: »Diese Zeugnisse schreiben wir nicht«. Ein Elternpaar hat geklagt, finanziell unterstützt von der GEW. In diesen sehr bewegten Zeiten habe ich viel über Politik und Steuerung gelernt, auch darüber, wie Einzelpersonen unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen Bildungspolitik gestalten zu können meinen und manchmal auch die Macht haben, es zu tun – Rückwärtsgewandtes trifft oft auf mehr Gegenliebe.

Wissenschaft und Politik

Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft auf der einen und Politik auf der anderen Seite ist im Hinblick auf Bildung und Erziehung meinem Überblick nach auch heute noch wenig beforscht. Welche wissenschaftlichen Ergebnisse werden intern und von der Politik für bedeutsam gehalten, welche werden ignoriert? Welche Ergebnisse ziehen Konsequenzen nach sich und aus welchen Gründen? Das ist ein weites Feld und führt mitten in die Überlegungen zu den Einflüssen von Mittel- und Oberschicht auf die Politik und die Gefährdung von Demokratie.

Kommissionen

Diether Breitenbach hat jeweils eine Kommission aus Fachleuten berufen, wenn es darum ging, eine Weiterentwicklung auf den Weg zu bringen. So geschehen zum Beispiel im Hinblick auf die Sonderpädagogischen Förderzentren, die eingerichtet werden sollten, um die integrative Pädagogik in den Landkreisen an einer Stelle zu konzentrieren, zu vereinheitlichen und mit anderen Trägern und Institutionen, zum Beispiel Jugendhilfe, oder therapeutischen Angeboten zu vernetzen. Breitenbach hielt es auch im Interesse der integrativ arbeitenden Sonderschullehrkräfte für notwendig, Karrierechancen zu entwickeln – bis heute gibt es in den meisten Ländern keine Aufstiegschancen für außerhalb der Sonderschulen. Die Förderzentren wurden von seinem Nachfolger Wittling eingerichtet, der zuvor die Zustimmung der relevanten Lehrerorganisationen eingeholt hatte – allerdings je nach Gestaltungswillen der Schulleitungen als mehr oder weniger eigene Abteilungen an Sonderschulen Lernen. Beteiligte Lehrkräfte betrachteten es dennoch als einen Fortschritt; in den ersten Jahren vor allem dahingehend, dass ihnen die Diskussionen um den Sinn ihrer Position und Tätigkeit an ihren Stamm-Sonderschulen erspart blieben. Die Kommission wurde wiederum von Alfred Sander geleitet, ich bewundere immer noch sein Geschick aus zu Beginn unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Meinungen, eine tragfähige gemeinsame Position zu flechten.

Beirat Inklusion

Von 2011 bis 2014 war ich Mitglied des Beirates »Inklusion«, den die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Martina Münch, zur Beratung ihres Vorhabens, Inklusion in Kindertagesstätten und Schulen zu implementieren, berufen hatte (Brandenburg war das östliche Bundesland, in dem von Anfang an, damals unter der »grünen« Ministerin Birthler, schulische Integration gefördert wurde). Da habe ich die Abhängigkeiten und die Komplexität bildungspolitischer Entscheidungen noch einmal im Ganzen verfolgen können. Es ist angesichts des hierarchisch organisierten gegliederten Schulsystems eine Mammut-Aufgabe, den Tanker Schule neu in Richtung Inklusion auszurichten, und Organisationen oder Verbände von Lehrkräften sind durchaus nicht immer hilfreich – ein erheblicher Teil der Elternschaft aber auch nicht. Koalitionsregierungen erschweren Entscheidungen zusätzlich, wenn die Partner sich in Bildungsfragen unterschiedlich positionieren oder verschiedene Interessen zu berücksichtigen sind. Wissenschaftliche Gremien können nicht direkt eingreifen, aber die Konsequenzen von Entscheidungen antizipieren und eventuell zielführende Alternativen entwickeln. Und zur zentral wichtigen Öffentlichkeitsarbeit beitragen. Der Beirat hat damals ein umfassendes Papier zur Entwicklung bis 2020 erarbeitet.

Notwendigkeit Integration weiterzuentwickeln

Meine Erfahrungen in politischen Zusammenhängen lehrten mich, dass Integration immer weiterentwickelt werden muss, sie darf nie stehen bleiben, sie muss ständig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden, sonst geht sie zurück. Denn die Bevölkerung hat zu einem großen Teil noch andere Denkmuster, und das Wirtschaftssystem fängt erst allmählich an, Integration als Ziel und Aufgabe zu benennen.

Und war dein Eindruck so, dass es zurückgegangen ist in den letzten Jahren?

Stillstand und Rückgang

O ja! Also das konnte man überall beobachten, dass die CDU – sie hatte ja in den meisten Ländern seit Mitte der 1990er Jahre die Verantwortung – schulische Integration – soweit es sie überhaupt gab – nicht abgebaut hat, aber sie hat inhaltlich nichts getan, um sie auch qualitativ weiterzuentwickeln. Das bewirkte Stillstand und danach Rückgang. Also zum Beispiel im Saarland bei einer Veranstaltung des Vereins »Miteinander leben lernen« trug die Staatssekretärin vor, es seien 86 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im letzten Schuljahr aus allgemeinen in die Sonderschulen gegangen. Das sei doch ein Zeichen dafür, dass manche Kinder die Sonderschule brauchen. Ich fragte sie, ob denn untersucht worden sei, unter welchen Umständen beziehungsweise aus welchen Gründen die SchülerInnen in die Sonderschulen wechselten. Qualität von Integration beziehungsweise integrativem Unterricht oder die Unterstützung der beteiligten Lehrkräfte waren für sie keine Themen: Es gab eben Kinder, die die Sonderschule brauchen und andere die in der Regelschule unterrichtet werden können. Das ist im Grunde genommen heute noch die Politik der CDU im Saarland. Im Sommer 2015 übertitelte die Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer ihren Artikel in Die Zeit, »Nicht mit der Brechstange«. Im Saarland ist schulische Integration seit 1986 gesetzlich geregelt. Sie schrieb, es könne sicher mehr Integration geben als jetzt, aber nicht für alle Kinder. Wenn wir mit dem Verein »Miteinander leben lernen« mit der CDU-Landtagsfraktion zusammensaßen, hatten wir immer den Eindruck, dass unsere Positionen sich nicht begegnen können. Allerdings muss man einräumen, dass auch die anderen Parteien – bis auf wenige einzelne PolitikerInnen – die angeblich »optimale Förderung« in den Sonderschulen nicht umfassend infrage stellen oder gar zugunsten der inklusiven Pädagogik aufgeben würden. Von der AfD ganz zu schweigen. Das Wahlrecht der Eltern, um das in der Geschichte der Integration von Eltern im Sinne der gemeinsamen Schule mit der Politik gerungen und Forderungen vielfach abgeschmettert wurden, wird jetzt von der Bildungspolitik im Sinne der Sonderschule vertreten.

Und welche MitstreiterInnen waren besonders wichtig für dich?

MitstreiterInnen

Es waren einzelne WissenschaftlerInnen und die WissenschaftlerInnen, die sich auf den Jahrestagungen trafen. Und es waren Bündnispartner in der politischen Fürsprache und in der Öffentlichkeitsarbeit für Integration bzw. Inklusion; seit 2005 sind es auch RechtsexpertInnen. Anwälte der internationalen Kanzlei Latham & Watkins, für die auf dem Hintergrund ihrer internationalen Kontakte das deutsche Sonderschulsystem und die Verweigerung gemeinsamen Lernens unverständlich war, hat auf Anregung von Sybille Hausmanns-Blömer ein Schulgesetz für Hessen geschrieben, das die UN-BRK rechtlich umsetzte. Als das Musterschulgesetz »Inklusion« für das Saarland verfasst wurde, habe ich viele hoch interessante Gespräche mit den Rechtsanwälten geführt, in denen die unterschiedlichen professionellen Perspektiven dargelegt wurden und zu einer gemeinsamen Position entwickelt wurden.

In der Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Alfred Sander waren es natürlich Alfred Sander und Hilde Schmidt sowie Hans Meister und dessen wissenschaftliche Mitarbeiter. Wir tauschten zum Beispiel immer aus, was eine/r von uns gelesen, geschrieben oder erfahren hat. Mit Alfred Sander und Hilde Schmidt fanden regelmäßig und bei Bedarf Sitzungen statt, mit Alfred Sander hatte ich einen »Jour fixe«, bei dem meine Aufgaben geklärt, aber auch Aktuelles ausgetauscht wurde. Vor Ort im Saarland war es außerdem die Zusammenarbeit zwischen Uni, der Arbeitskammer, dem Verein »Miteinander leben lernen« und der GEW sowie dem Landesbehindertenbeauftragten. Wir trafen uns ziemlich regelmäßig und richteten immer wieder eine Veranstaltung aus – zum Beispiel jedes Jahr ein landesweites Integrationsfest, das von circa 500 Menschen besucht wurde, von Jahr zu Jahr in anderen Regionen und im Wechsel der Hauptverantwortung. Die Aufgabe war erstens Öffentlichkeitsarbeit, wenn vonseiten des Ministeriums Initiativen gegen Integration bekannt wurden, in der Absicht, diese zu verhindern, beziehungsweise um Initiativen zur Weiterentwicklung von Integration zu unterstützen und zweitens das Thema Integration im Land als selbstverständlich zu verankern. Der Verein »Miteinander leben lernen« spricht immer wieder bei Bedarf die anderen Beteiligten an; an der Uni gibt es allerdings seit der Pensionierung von Hans Meister, Alfred Sander und Hilde Schmidt keine Partner mehr. Alfred Sander und Hilde Schmidt gehören aber dem Beirat des Vereins weiter an, Alfred Sander lange als der Vorsitzende.

Das ist komplett weggebrochen?

MitstreiterInnen

Das ist komplett weggebrochen, ja. Also da ist meines Wissens kein Sonderpädagoge mehr. Hans Meister, der vor einigen Jahren verstorben ist, und Alfred Sander waren beide von der Ausbildung her Sonderpädagogen und hatten in der Fakultät Erziehungswissenschaft Lehrstühle für Sonderpädagogik inne. Studierende im Lehramt Sekundarstufe I und II konnten bei ihnen ihre erziehungswissenschaftliche Ausbildung absolvieren und sich von ihnen prüfen lassen. Sie waren zunächst an der Pädagogischen Hochschule tätig, die es damals noch gab; dort gehörten zum Pensum der Studierenden für die Lehrämter Grund- und Hauptschule vier Stunden Sonderpädagogik. Also, das waren inspirierende Mitstreiter. Bei meiner wissenschaftlichen Arbeit war es natürlich auch Reimer Kornmann, bei dem ich promovierte. Wir kannten uns von Veranstaltungen der GEW und im Zusammenhang von Gutachten zur Überrepräsentanz von Kindern mit Migrationshintergrund, die die Max-Traeger-Stiftung der GEW finanzierte. Professor Kluge von der AfH in Köln, bei dem ich meine Examensarbeit über Janusz Korczak geschrieben hatte, hätte mich auch angenommen als Promovendin – das sage ich, damit meine Promotion bei Reimer Kornmann nicht nur in Zusammenhang mit meiner GEW-Tätigkeit vermutet wird. Das Doktorandenkolloquium bei Reimer Kornmann und Wolf Rüdiger Wilms in Heidelberg war auch so eine Gruppe von MitstreiterInnen; dazu gehörten auch Manfred Weiser aus Heidelberg und Erwin Reichmann-Rohr aus Bremen.

Das war ein Kreis, in dem die Realitäten kritisch unter die Lupe genommen und beim Namen genannt wurden, in dem alles kritisch präzisiert wurde, was zu präzisieren war, also ein Gremium zur Reflexion des Geschehens auch von der Geschichte der Pädagogik und Sonderpädagogik her. Das war sehr hilfreich für mich. Ja, das waren wichtige. Die Mitglieder der Bundesfachgruppe »Sonderpä­dagogische Berufe«, so wurde der Name in meiner Zeit als Vorsitzende umbenannt, also die Landesfachgruppenvorsitzenden waren ebenfalls eine Gruppe, in der es darum ging, Sonderpädagogik in Richtung Integration beziehungsweise Inklusion weiterzuentwickeln. Die Papiere, die wir entwarfen, also was wir zum Beispiel damals zur Lehrerausbildung für Sonderpädagogen im Hinblick auf Integration geschrieben haben, das taugt heute noch als Grundlage. Unsere kleine Broschüre »Gemeinsamen Unterricht weiterentwickeln« war in der GEW ein Schritt auf dem Weg der Verankerung von »Inklusion« als Ziel und Praxis pädagogischer Arbeit. Die gemeinsamen Sitzungen ermöglichten allen Beteiligten einen guten Einblick in die Situation in den Ländern, die sich je nach Couleur der Landesregierung unterscheidet. Wir wechselten den Sitzungsort, sodass wir immer wieder die Praxis und ihre Probleme vor Ort erfuhren. In einigen Ländern bestanden gute Kontakte zu den Landesbehindertenbeauftragten und wir hatten auch Kontakt mit dem Verband behinderter JuristInnen.

Dein Hauptbezug zur Praxis war dann der Elternverein, nachdem du raus warst aus der Schule?

Eigene Schulpraxis

Der Elternverein ist ein wichtiger Teil meiner Integrationsgeschichte immer noch und als meine Zeit als Mitarbeiterin von Alfred Sander zu Ende ging, arbeitete ich wieder in der Schule. Ich musste ja von irgendetwas leben und meine Dissertation war noch nicht fertig. Und dann habe ich ja wieder ganz konkret den Bezug zur Praxis gehabt. Und dann habe ich erfahren, was ich davor und danach gelesen, geschrieben und diskutiert habe, z. B. zur Rolle der SonderpädagogInnen in der allgemeinen Schule, zur Schwierigkeit, ihren Platz zu finden zwischen Expertentum und Verantwortung für alle Kinder der Lerngruppe, oder zur multiprofessionellen Kooperation.

Was war das für eine Schule?

Kritik an den SonderpädagogInnen

Das waren verschiedene. Als sogenannte Integrationslehrerin war die Sonderschule für Schwerhörige zwar meine Stammschule, ab1987 habe ich aber nur noch in allgemeinen Schulen gearbeitet und zwar in allen Schulformen, die es im Saarland gibt, von der Grundschule bis zur Berufsschule. In allen Schulen bin ich auf tolle LehrerInnen getroffen, zum Beispiel im Gymnasium, wo der Mathematiklehrer sagte, das sei doch klar, dass ein halbseitig gelähmtes Mädchen keine Konstruktionszeichnung machen könne, und sie die Konstruktion beschreiben ließ. Viele Lehrkräfte waren offen für Kinder und einfach vernünftig, teilweise offener, als die SonderpädagogInnen, die ein bestimmtes Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten eines in bestimmter Weise behinderten Kindes pflegten. Ich sehe den Berufsstand kritisch. Ich habe viele Lehrkräfte kennengelernt, die in einem Kind mit Behinderung vor allem das Kind sahen, was ich im Interesse des Kindes für den chancenreicheren Zugang halte. Es war mir ein Anliegen in der Ausbildung für SonderpädagogInnen eine Haltung und ein Berufsbild nahe zu bringen, das vor allem die Orientierung am einzelnen Kind zum Ziel hat und das Wissen, das der Kategorisierung folgt, entsprechend einordnet.

Wann bist du denn wieder an die Uni gekommen oder hattest du dann parallel noch Lehraufträge?

Universitäre Laufbahn

Ja, das auch, ich hatte Lehraufträge in Leipzig und in Gießen und dann kam ich 2005 nach Frankfurt. Helga Deppe-Wolfinger und Dieter Katzenbach, die mich von den Integrationsforschertagungen kannten, die ich seit den 1990er Jahren besuchte, unterstützten, dass ich die Vertretung des Lehrstuhls »Allgemeine Sonderpädagogik« am Institut für Sonderpädagogik übernehme, wenn Helga Deppe-Wolfinger pensioniert würde. Das war ein wunderbares Angebot: Ich hatte gerade ein Bewerbungsverfahren auf die Leitung eines Förderzentrums im Saarland absolviert und war im Sinne der Bildungsverwaltung nicht genügend geeignet – das hatte man mir in einer erstaunlichen Prüfung unter Beweis zu stellen versucht. Zunächst als Vertretungsprofessorin und später als wissenschaftliche Mitarbeiterin lehrte ich vor allem im Lehramtsstudium in der Einführung ins Studium der Sonderpädagogik, in den Modulen »Heterogenität im Anfangsunterricht« und »Teilhabe und Ausgrenzung« sowie im BA-Studium. Für eine weiterführende Universitätslaufbahn war ich einfach zu alt; deshalb habe ich, soweit es in meinen Möglichkeiten lag, junge Frauen dabei unterstützt, sich ihrer Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten bewusst zu werden beziehungsweise ihnen die Möglichkeit überhaupt erst bewusst gemacht. Die Form einer sogenannten Hochdeputatsstelle, die man für meine weitere Beschäftigung am Institut für Sonderpädagogik gefunden hatte, war mit einer erheblichen Lehrverpflichtung verbunden. Aber sie gab mir die Möglichkeit, in den vielen Seminaren und Prüfungen Studierende in Richtung Inklusion zu öffnen und zu informieren.

Gut. Was waren aus deiner Sicht die größten Herausforderungen für das Feld und persönlich?

Also du meinst jetzt in Bezug auf die Integrationsentwicklung?

Ja.

Persönliche Herausforderungen

Also ich sag jetzt mal, nicht nur die Forschung, sondern die Entwicklung auch. Also persönlich war die Herausforderung, dass ich nicht verstehen konnte, wie ein Mensch dieses separierende System für richtig halten und dieses Menschenbild akzeptieren kann, es gäbe Menschen, die wären »normal« und andere, die wären behindert. Und die Normalen könnten entscheiden, welche Welt den Behinderten offen stehe und wo sie keinen Zugang haben sollten. Das war eine große Herausforderung damit so umzugehen, dass nicht gleich so eine Konfrontation entsteht, dass man gar nicht mehr miteinander im Gespräch bleiben kann. Und für das Feld: mit Feld meinst du jetzt also das wissenschaftliche Feld?

Ja, Herausforderungen für das wissenschaftliche Feld.

Herausforderungen der Wissenschaft

Da sah und sehe ich verschiedene Herausforderungen. Die erste bestand schon seit Beginn der Integrationsforschung. Wenn WissenschaftlerInnen bestimmte Vorstellungen von Weiterentwicklungen der Integrationspolitik und -praxis haben, aber als Wissenschaftler die Untersuchungen im Feld unabhängig zu gestalten haben, dies ist ein Spagat. Sodann können die Ergebnisse von Untersuchungen von den Auftraggebern anders interpretiert beziehungsweise verwertet werden als von den Forschenden. Da können sich erhebliche Konflikte ergeben. Ein Beispiel: 1991 bis 1994 fand an zwei Sonderschulen im Saarland, der Schule für Sprachbehinderte und einer Schule für Lernbehinderte, ein BLK-Projekt »Sonderpädagogische Förderzentren als Weiterentwicklung der Organisation sonderpädagogischer Arbeit für behinderte Schülerinnen und Schüler« statt. Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte das Ergebnis des Modell-Versuchs, das erprobte Konzept habe nicht zur Weiterentwicklung schulischer Integration beigetragen: die Schule für Sprachbehinderte zum Beispiel hatte im Projektzeitraum die Zahl ihrer SonderschülerInnen verdoppelt. Der Projekttitel hatte den Schulen allerdings keinen eindeutigen Auftrag gegeben, die integrative Förderung weiter zu entwickeln; die Projektleitung im Ministerium hatte sich der Wissenschaftlichen Begleitung unter Leitung von Alfred Sander nicht anschließen können. Entsprechend unterschiedlich geriet die Einschätzung der Versuchsergebnisse.

Abhängigkeit von der Bildungspolitik

Solche politischen Konstellationen stellen WissenschaftlerInnen vor die Frage, welchen Kompromiss sie einzugehen bereit sind. Da ist zum Beispiel abzuwägen, ob ich den Schulversuch wissenschaftlich begleite, obwohl schon von Beginn an zu erkennen ist, dass er nicht auf andere Regionen oder Situationen übertragen werden kann. Ich denke zum Beispiel an den Schulversuch in Baden-Württemberg zur Integration autistischer Kinder, Hansjörg Kautter leitete den Versuch. Er mag sich gefragt haben, muss ich vielleicht eine Chance darin sehen, dass es in dem Land überhaupt erstmals möglich wird, über Integration zu sprechen. Und kann ich trotz aller Widerstände im Land mit der Untersuchung vor Ort etwas bewirken. Der Abschlussbericht wurde leider nicht veröffentlicht.

Veröffentlichung von Forschungsberichten

Das geschah nicht nur einmal. In Hessen bedurfte es eines Regierungswechsels, damit der Bericht von Ferdinand Klein und Richard Meyer über die Integration von Kindern mit geistiger Behinderung in Rüsselsheim-Königstädten veröffentlicht wurde. 1985 war der Versuch mit wissenschaftlicher Begleitung ausgestattet worden, der Abschlussbericht wurde zehn Jahre später veröffentlicht.

In solchen Begleitforschungen sind WissenschaftlerInnen einerseits auf die Politik als Auftraggeber angewiesen – glücklich, wer andere Geldgeber findet – und andererseits herrschen sie nicht allein über ihre Daten. Ergebnisse können ignoriert, selektiv gedeutet, ja missbraucht werden. Wie lässt sich der Spielraum zur eigenen Deutung der Ergebnisse erhalten. Das sind wichtige Fragen, die zu Ambivalenzen führen können.

Trotzdem halte ich auch weiterhin eine Inklusionsforschung für nötig, die sich nicht nur auf Einzelfragen bezieht, sondern Systeme in den Blick nimmt und zwar anders als die empirische Bildungsforschung, die zwar mit großen Stichproben beeindruckt, die Komplexität des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren nicht erfassen kann.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollen nicht in Vergessenheit geraten?

Wichtige Erkenntnis: Alle Kinder können gemeinsam lernen

Hm, das ist eine Frage, die eine umfassende Antwort fordert. Also zunächst einmal: Kinder mit und ohne Behinderung können zusammen lernen, und das Gelingen gemeinsamen Lernens hängt nicht von den Kindern ab, sondern von der Art des Unterrichts und ganz wesentlich von der Fähigkeit der Professionellen im Interesse der Kinder zu kooperieren. Dann: Integrativer Unterricht erschöpft sich nicht in der Individualisierung des Unterrichts, sondern schafft auch Situationen für Gemeinsamkeit. Integrativer Unterricht ist wie guter Unterricht überhaupt, inhaltsreich, spannend, hält den Spagat zwischen individuellem und gemeinsamem Lernen und ist getragen von Wissen, Empathie und Humor. Eine Atmosphäre von Verbundenheit der Individuen und ihr Interesse aneinander und an der geistigen und sozialen Entwicklung eines/r jeden anderen trägt wesentlich zu eben dieser Entwicklung bei. Also zu meinen, man erwarte jetzt von Lehrkräften etwas völlig Neues, das entwertet eigentlich die Tätigkeit von Lehrkräften insgesamt. Aber in der ungesteuerten Umsetzung von Inklusion als Wahlrecht der Eltern zwischen allgemeiner und Sonderschule für ihr Kind mit Sonderpädagogischem Förderbedarf und einzelnen entsprechend unvorbereiteten Lehrkräften wuchs sich jetzt in der Öffentlichkeit Inklusion zu einer vollkommen neuartigen und unbewältigbaren Aufgabe aus und die Inklusionsbewegung hat nicht genügend deutlich gemacht, dass Inklusion als Grundlage vor allem eine Qualität von Unterricht verlangt, die sich an die Kinder und Jugendlichen in ihrer Vielfalt richtet.

Offener Unterricht

Seit den 1970er Jahren wurde im Arbeitskreis Grundschule entwickelt, wie man differenziert; die Unterschiede von Kindern im Lernen und Verhalten sollten nicht länger zur Aussonderung der sogenannten schulschwachen Kinder führen. Anfang der 1970er Jahre wurde der Leselehrgang vom Pädagogischen Zentrum herausgegeben, der erlaubte mithilfe des angebotenen Materials zu individualisieren und zu differenzieren. Das war 1972. Wenn man als GrundschullehrerIn oder als GesamtschullehrerIn das zur Kenntnis genommen hätte – das Team-Kleingruppenmodell basierte ja auch auf den Ideen von kooperativem individuellen und gemeinsamem Lernen – dann wäre das heute kein gewaltiges Problem, dass Kinder unterschiedlich lernen. Wenn ein Kind ganz andere Voraussetzungen mitbringt, dann erst fängt Integration an und dafür braucht es dann besondere Unterstützung und Beratung durch zusätzliches Personal, wie zum Beispiel die Lehrkraft für Sonderpädagogik. Die Integrationspädagogik hielt sich da sehr zurück; sie hätte meines Erachtens viel stärker vertreten können, dass guter integrativer Unterricht für alle Kinder der richtige Unterricht ist. Denn offener Unterricht bietet Möglichkeiten zum Lernen für alle an: für die, die mehr Zeit für ihre Entwicklung brauchen und für die, die davon hüpfen und viele Ideen zum Lernen haben und für alle dazwischen.

Die Grundschule Berg Fidel in Münster ist ein Beispiel, ich verfolge die jahrgangsübergreifende Arbeit seit vielen Jahren. Dort gibt es eine freie Arbeitsphase, in der die Kinder in den Hauptfächern von ihrem Stand aus weiter arbeiten, und es gibt eine Phase, wo sie im »Freien Forscherclub« (FFC) in kleinen Gruppen an ihren Themen arbeiten, mit einer Struktur, die ein Forscherheft vorgibt und die direkt auf wissenschaftliches Arbeiten vorbereitet: Forschungsthema entscheiden, Forschungsfragen entwickeln, Recherche-Methoden bestimmen, Recherche, Vorbereitung der Präsentation und Evaluation. Zur Themenwahl gibt es keine Vorgaben, Beratung bei Bedarf. Ich habe ein Plakat gesehen, Einladung zum Vortrag »Wird man in 50 Jahren mit dem Auto zum Mond fahren können?« Es gibt auch diese gemeinsamen Stunden, in denen jedes Kind auf seinem Niveau den Auftrag erfüllen kann, sie heißen zum Beispiel »Schriftstellerstunden«: alle schreiben Geschichten; die, die noch nicht schreiben können, die malen eine Geschichte oder schreiben ein Wort oder sie lassen jemanden schreiben. Unterricht hat ja immer mit Ambivalenzen zu tun, also mit der Ambivalenz der verantwortlichen Unterstützung der Lernprozesse durch die Lehrkraft und mit dem Eigensinn und den Eigenaktivitäten der Kinder. Für die Integrationspädagogik beziehungsweise den inklusiven Unterricht sollten wir diese Ambivalenzen noch schärfer ausarbeiten: Welche Aspekte und Ambivalenzen von integrativem Unterricht gelten für jeden guten Unterricht?

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, eigene und anderer?

Ökosystemischer Ansatz

Also für mich als Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe in Saarbrücken war es natürlich zuerst einmal die ökosystemische Pädagogik und Diagnostik, die die bisherige Diagnostik sozusagen umkehrte. Und die entwicklungslogische Didaktik von Georg Feuser war mir insofern sehr wichtig, weil sie eine Vorstellung davon gab, wie am gleichen Gegenstand auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen gelernt werden kann. Die theoretischen Überlegungen zur Pädagogik der Vielfalt von Annedore Prengel bzw. zur Pädagogik der Heterogenität von Andreas Hinz und auch die von Ulf Preuss-Lausitz – die Bücher sind ja etwa zur gleichen Zeit erschienen und waren extrem wichtig für das Verstehen des Zusammenhangs von Integration und Demokratie; sie halfen mir, den Zusammenhang von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit besser zu strukturieren und waren mir nicht nur für die wissenschaftliche Arbeit, sondern auch im privaten Leben Weg weisend

Dann die Forschung, die im Saarland im Zusammenhang der Implementation einer bildungspolitischen Veränderung geleistet wurde, die Voraussetzungen und die Beobachtung der Veränderungsprozesse – das war eine wichtige Grundlage für meine eigene wissenschaftliche Arbeit. Die Steuerung von Veränderung in einem System im bildungspolitischen Bereich. Da sind wichtige Erkenntnisse entstanden, die aus der Rückschau noch einmal genauer angeschaut werden sollten, auch im Vergleich mit anderen Formen der Implementierung von schulischer Integration in anderen Ländern, das heißt, mit anderen Ausgangslagen im allgemein- und im sonderpädagogischen Bereich. Da sind auch die schleswig-holsteinischen Entwicklungen interessant, weil sie von Anfang an auch das ganze Bildungssystem im Blick gehabt haben, das ganze sonderpädagogische und allgemeinpädagogische System.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachtest du für besonders wichtig?

Theoretische Grundlagen

Arbeiten zur Frage des Menschenbildes zum Beispiel von Jollien und von Fragner, zur »Gleichwürdigkeit« von Menschen, wie Ute Geiling das ausdrückt, zu Rechtsfragen zum Beispiel von Eichholz, zu Kinderrechten zum Beispiel von Krappmann und solche zur Gerechtigkeit beispielsweise von Sennet sind für mich immer noch die zentralen. Und da können wir ja weit über die Grenzen der Integrationspädagogik hinaus Grundlegendes finden. Den Forschungsbericht von Helga Deppe-Wolfinger, Annedore Prengel und Helmut Reiser (1990) halte ich übrigens für Weg weisend: Dort werden alle Themen der Integration schon angesprochen. Für mein eigenes Verständnis der Profession Sonderpädagogik, aber auch für meine Lehrtätigkeit waren und sind Fakten zu historischen Prozessen und zu Auseinandersetzungen, zum Beispiel von Vera Moser und von Jan Weisser und auch Autobiografien von Menschen mit Behinderung zum Beispiel von Thomas Quasthoff, grundlegend. Für mich waren auch immer soziologische Beiträge wichtig, beispielsweise zu Entwicklungen im internationalen Raum, also zum Beispiel Steiner-Khamsi, Radtke, Lohmann, Amos und Parreira do Amaral. Und die zeigen, wie viele internationale Player Demokratie und Demokratiebildung auch in Deutschland gefährden. Die Verständigung darüber, was Bildung sei, ist also notwendig. Das auch für die Inklusionspädagogik grundlegende Thema Bildung ist – bis auf die Arbeiten von Feuser, von Roedler und von Prengel – meinem Überblick nach etwas ins Hintertreffen geraten – es würde uns aber mit der allgemeinen Pädagogik wieder zusammenführen. Die Fragen des Zusammenhangs von Disability Studies und Inklusion sollten weiter bearbeitet werden.

Gut. Welche empirischen Forschungen erachtest du für besonders wichtig?

Begleitforschung

Natürlich alle Arbeiten der Begleitforschung, die in den Anfängen der Integrationsbewegung geleistet wurden und die den Nachweis erbrachten, dass und wie gemeinsames Lernen gelingt.

Schweizer Beiträge

Die Schweizer Beiträge sind mir wichtig, weil sie mit riesigen Untersuchungen zu überzeugenden Ergebnissen kamen. Zu den Schweizer Untersuchungen gehört auch die vergleichende Befragung Erwachsener, die als schulschwache SchülerInnen entweder eine Sonderklasse/-schule oder eine allgemeine Schule besucht hatten. Zu Langzeiteffekten schulischer Separation oder Integration sollte weiterhin und intensiv geforscht werden, hier halte ich die neueren Arbeiten von Lisa Pfahl und von Fabian van Essen für wichtig.

Wirkungen der allgemeinen Schule und Sonderschule im Vergleich

Die vergleichenden Arbeiten zu Wirkungen des Besuchs der Sonderschule und allgemeiner Schulen von zum Beispiel Hans Wocken, aber auch die grundsätzlicheren Arbeiten von Justin Powell, die sich vergleichend auf Schulsysteme beziehen, müssen weitergeführt werden.

Bei den letzten Jahrestagungen der Integrations- und InklusionsforscherInnen gewann ich den Eindruck, dass die großen Linien zu verschwinden drohen und viele sehr kleinteilige Projekte die Forschung zu Inklusion bestimmen. Manche Fragen müssen nun nicht mehr beforscht werden, weil sie häufig genug beantwortet wurden, also zum Beispiel die Einstellung von Lehrkräften zur Inklusion. Während »das Haus brennt«, wie Hans Wocken sagt und damit die von Inklusion gänzlich abweichenden schulischen Verhältnisse meint, findet die Auseinandersetzung damit in der Inklusionsforschung kaum wahrnehmbar statt.

Ja, und natürlich, was in Frankfurt geforscht wurde, die erste Untersuchung von Reiser in den 1980er Jahren »Sonderschullehrer in Grundschulen« und die späteren Analysen zu Fremdheit und Annäherung, Nähe und Distanz zwischen den Beteiligten. In der eigenen Praxis als sogenannte Integrationslehrerin war es hilfreich, ein Konzept zu haben, die Prozesse zu verstehen. Es gab übrigens einen wunderbaren Film Gemeinsamer Unterricht – wie geht das?, in dem Helga Deppe-Wolfinger das integrative Geschehen und die entsprechende unterrichtliche Praxis erklärt. ForscherInnen betrachteten es damals als ihre Aufgabe, Integrationspädagogik verständlich zu veröffentlichen. Eigentlich hat jede Forschergruppe wesentliche Erkenntnisse eingebracht. Die Forschung zu den Integrativen Regelklassen war mir wichtig, um unter Beweis zu stellen, dass schulische Integration nicht nur mit Kindern engagierter Eltern gelingen kann. Die Forschung zu Gesamtschulen gehört nicht direkt zur Integrationsforschung, wir sollten aber näher zusammenkommen. Es würde uns auch politisch gegenüber den verharrenden Kräften stärken.

Was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Streitpunkt:
Inklusionsbegriff

Brauchen wir den Inklusionsbegriff?

Brauchen wir ihn?

Ich hätte ihn nicht gebraucht.

Warum?

Ich hielt es für angezeigt ihn aufzunehmen, um damit noch einmal ein Bewusstsein in der Integrationsbewegung und -forschung zu erneuern, dass es nicht nur um sogenannte Geistig Behinderte und Nichtbehinderte geht. Denn die 50% der SchülerInnen an Sonderschulen, die Lernbehindertenschulen besuchten, waren nicht (mehr) zentral im Blick der Integrationsforschung und -bewegung. Das Motiv, quer zu Behindert/Nichtbehindert soziale Herkunft und Migration mit einzubeziehen. Die Geschlechterfrage eben auch, aber die war im Blick, zum Beispiel durch die Arbeiten von Annedore Prengel, Andreas Hinz und Ulf Preuss-Lausitz. Also jetzt bin ich froh, dass wir den Begriff aufgenommen haben, aber ich finde ihn mittlerweile grausam instrumentalisiert und verwässert. Das macht mich ratlos.

Na, mittlerweile ist es doch schon so, dass man wieder den Eindruck hat, dass Inklusion das mit den Behinderten ist und das wieder darauf begrenzt wird.

Ja, ja.

Gab es noch weitere Streitpunkte?

Forschen und politisch handeln

Zu Beginn: Welche Art von Forschung machen wir da? Ist das Forschung, was wir machen? Handlungsforschung, wenn wir gleichzeitig politisch aktiv sind im Sinne dessen, was wir forschen. Das war eine berechtigte Auseinandersetzung in den Anfängen der Integrationsforschung. Und welche Instrumente gebrauchen wir für diese Forschung? Und die Frage, wie geht man dann, wenn man Ergebnisse hat, damit um und dann auch wieder gegenüber der Politik, die die Forschung oft bezahlt hat. Also wie nah begeben wir uns zur Politik? Und wie schützen wir unsere Forschung sozusagen?

Und wie schätzt du das ein mit der Nähe zum Feld? Weil das ist ja m. E. ein ganz wichtiger Unterschied, wenn man vergleicht damals die Begleitforschung, die eben auch mit Entwicklungsbegleitung war, im Vergleich zum heutigen Auszählen von Lesefragebogen? Also diese Anbindung an die Schule, die ist

ja heute nicht mehr in der Form gegeben oft bei der Begleitforschung. Die kommen einmal vorbei, teilen die Fragebögen aus und sammeln sie wieder ein.

Veränderung der Forschung

Die Forschung in den letzten Jahren war meist auf einen kleinen Raum und oft auch auf sehr kleinteilige Fragen bezogen. Während es vorher ja in der Regel um Systeme und ihre Entwicklung, also um Systeme oder mehrere Schulen oder auch um eine zeitliche Entwicklung ging; zum Beispiel in der Langzeitstudie von Almut Köbberling und Wilfried Schley zu integrativen Prozessen in der Schulentwicklung, bei Lehrkräften und SchülerInnen über zehn Jahre schulischer Integration. Langzeitstudien auch über die Schulzeit hinaus gäben vielleicht neue Einblicke: Unterscheiden sich gesellschaftliches und politisches Denken von früheren SchülerInnen integrativen versus separativen Unterrichts? Und was in der Integrationsforschung noch ziemlich unterbelichtet ist, ist die Perspektive der Kinder. Mit Christina Huf zusammen interviewe ich Kinder und beobachte Unterricht in der Primus-Schule Berg Fidel. Die Forschung zu den Primus-Schulen in Nordrhein-Westfalen wird auch interessante Einblicke geben – sie wird übrigens vom Land finanziert: es scheint, dass die nach der vierten Klasse ohne Bruch weitergeführte Schule das Professionalitätsverständnis bei den Lehrkräften verändert. Es sind mehrere Schulen einbezogen.

Also so große Forschungen wie meinetwegen zu den integrativen Regelklassen gibt es im Moment kaum. Die »Bielefelder Längsschnittsstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements« (BiLieF), vom Bundesministerium gefördert, ist wohl eine große Untersuchung. Ansonsten sind es kleinere Untersuchungen, die aber keine politische Wirkung haben werden. Wichtig wären Evaluationsstudien, die in ausreichender Komplexität erforschen, welche Veränderungen in den Schulen sich auf dem Weg zur Inklusion ereignen und mit welchen Effekten für Erziehung und Bildung im Allgemeinen – wie es wohl gerade in Bremen geschieht.

Naja, es gibt halt viele kleinere Sachen, wo jetzt irgendwie wieder Modellversuche gemacht werden zu Inklusion auf einmal. Gut. Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen siehst du für die Praxis?

Für die integrative Praxis in Schulen oder Kindergarten?

Ja, genau.

Individualität und Gemeinsamkeit

Diese Ambivalenz von Individualität und Gemeinsamkeit im Bewusstsein zu halten, dieses Spannungsfeld zu gestalten und abwechselnd oder gleichzeitig auf beiden Hochzeiten zu tanzen.

Gemeinsamer Unterricht: Nutzen für alle Kinder

Und deutlich zu machen, dass das, was wir erwarten, wenn wir von inte­grativem oder inklusivem Unterricht sprechen, allen Kindern nützt und diesen Unterricht umgekehrt für alle Kinder zu fordern. Also die Verantwortung zu übernehmen für alle Kinder, egal mit welchen Voraussetzungen sie kommen, also diesen Abschiebemodus und die Platzierungsfragen aufzugeben. Auf lange Sicht wird das nur gelingen, wenn, wie in den Langzeitschulen in Berlin, in einigen Gesamtschulen in Hamburg und jetzt in den Primus-Schulen, Grund- und Sekundarstufen eine Schule bilden. Solange wir die Kinder schon nach dem vierten Schuljahr trennen, wird es immer geteilte pädagogische Verantwortung und damit die Gefahr von Verantwortungslosigkeiten geben, auf der Seite der Kinder und ihrer Eltern Schul- und Entscheidungsstress und im Hinblick auf die gesellschaftlichen Trends des Auseinanderdriftens der Milieus die frühe Anbahnung in der Schule.

Verständnis von Leistungen

Und wir brauchen ein anderes Verständnis für die Leistungen von SchülerInnen. Das abschlussbezogene Denken bei Lehrkräften und Eltern – als Grundschullehrerin eines ersten Schuljahres wurde ich von einer Mutter gefragt, ob ihr Sohn das Abitur schaffen könne – setzt in Deutschland immer noch viel zu früh ein und verhindert über die Standardisierung die Entdeckung und das Heben individueller Potenziale. Der Schulleiter einer Hamburger Stadtteilschule Witting forderte in einer Diskussion auf dem Kongress von Uni Frankfurt, GEW, Grundschulverband, GGG, Politik gegen Aussonderung und mittendrin e. V. 2017, jedes Kind müsse sein eigener Maßstab sein dürfen.

Dialogisches Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern

Von einem dialogischen Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, wie es die UN-Kinderrechtskonvention fordert, sind wir in der Schule als System weit entfernt. Es ist eher so, dass wir Kinder den Vorstellungen der Erwachsenenwelt angleichen oder einpassen, und zwar vor allem der Mittelschicht-Welt.

WissenschaftlerInnen sollten mit dazu beitragen, dass die Aufgabe von Schule nicht hauptsächlich in der Allokation gesehen wird, sondern ein umfassenderer Zusammenhang von Erziehung und Bildung in den Blick genommen wird: Erziehung zur Demokratie und zur Achtung der Rechte aller.

Und für die Forschung, wo siehst du da zukünftige Aufgaben und Heraus­forderungen?

Mentalitätswechsel

Wir wissen, worauf es ankommt, wie inklusiver Unterricht zu gestalten sei. Es geht jetzt darum zu forschen – in der GEW habe ich immer gesagt, wie kommen wir vom Beschluss zum Genuss – welches die Voraussetzungen dafür sind, dass Lehrkräfte sich öffnen dafür, dass alle Kinder ein Recht auf gute Bildung haben und die Verantwortung annehmen, auch wenn das gegliederte System eine andere Logik nahelegt. Es ist ein professioneller Mentalitätswechsel der Beteiligten erforderlich. Wie kommen Menschen dahin und wie fühlen sie sich nachher? Also die Frage: wie werden AllgemeinpädagogInnen – und die SonderpädagogInnen – zu InklusionspädagogInnen? Also Lehrerforschung, aber als Forschung zur Entwicklung von Lehrerpersönlichkeiten. Und dann natürlich die Lehrerausbildung, da sind Entwürfe gefragt und Forschung zu Umstellungsprozessen in allen drei Phasen der Lehrerbildung.

Einsatz von SonderpädagogInnen

Und dann die Frage, welche Begleitung Schulen brauchen, wenn sie sich auf inklusive Pädagogik einstellen und Schulentwicklung begleiten. Forschung zur Frage, wie kann in einer Region die sonderpädagogische Förderung so implementiert werden, dass sie überall ankommt, wo sie gebraucht wird, und wie kann die Sonderpädagogik mit anderen Berufsgruppen zusammenarbeiten. Man könnte das Modell Katzenbach & Schnell in einer Region ausprobieren und begleitend forschen: wie strukturiert man das, mit Budgetierung und zusätzlichem Einzelinput? Auch die Frage, wo brauchen wir wirklich die SonderpädagogInnen, welche Berufsgruppen brauchen wir wo und dies zu implementieren – Hans Wocken hat vor Kurzem auf einem Kongress von mittendrin e. V. in Köln die Frage gestellt und ausgeführt, ob es immer SonderpädagogInnen sein müssten, um eine Doppelbesetzung in einer Integrationsklasse zu gewährleisten.

Es ist wieder Forschung wie in den Anfängen gefragt, die sich auf das ganze System bezieht, das jetzt natürlich komplexer geworden ist als in den Anfängen der Integrationspädagogik, als es um die Frage der Integration von jungen Menschen mit Behinderung in allgemeine Institutionen ging. Ich sehe da eine gewisse Hilflosigkeit dieser gigantischen Aufgabe gegenüber und die großen, teuer bezahlten Projekte der empirischen Bildungsforschung helfen da bislang auch nicht weiter.

Welche Bezüge siehst du zu den anderen Teildisziplinen, die allgemeine Pädagogik hatten wir jetzt gerade, aber auch Frauenforschung, Migrationsfragen, auch Gender und Disability Studies.

Austausch über Kategorien und ihre Wirkungen

Also, die Disability Studies waren für mich in der sonderpädagogischen Ausbildung für die Studierenden ungeheuer wichtig, weil sie damit von Anfang des Studiums einem Bild von Behinderung begegneten, das Teilhabe mit Selbstständigkeit verbindet. Ebenso wichtig war mir als Reflexionsebene die Perspektive der Behinderten auf Nichtbehinderte. Die Kategorien Geschlecht und Behinderung miteinander in den Blick zu nehmen, was heißt das denn, wenn ein Junge behindert ist, was heißt das, wenn ein Mädchen behindert ist und Migrationsgeschichte hat usw. Und die Kategorien an sich in ihrer Wirkung auf die Alltagspraxis zu reflektieren.

Intersektionalität.

Ja. Wir sollten das, was Andrea Platte geschrieben hat »… Wir müssen uns mit den anderen Forschungsrichtungen auch austauschen …« in die Tat umsetzen, jetzt nicht nur auf dem Papier. Wir hatten bei der GEW vor circa acht Jahren mal so eine kleinere Arbeitstagung, wo wir versuchten, die Begrifflichkeiten zu verorten und von den entsprechenden Vertretern der Teildisziplinen jeweils erläutern zu lassen. Intersektionalität, Diversität, Heterogenität, Integration, Inklusion. Das war interessant, es wurde deutlich, dass Öffnungen des Blicks über Grenzen gewinnbringend wären.

Welche internationalen ForscherInnen waren für dich am bedeutsamsten?

Internationaler Austausch

Frühere internationale Begegnungen in Israel, Holland, Leicestershire und spätere im Rahmen von Exkursionen in Südtirol bezogen sich auf die vergleichende Reflexion von Schulentwicklung und Unterricht in der Praxis. Während des Studiums Ende der 1970er Jahre sah ich bei einer Exkursion nach Israel Unterricht, der sich auf die Integration der jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer aus ganz verschiedenen Kulturen, aber auch auf Kinder mit Behinderungen bezog; das Thema und die Praxis der Lehrkräfte war die Erziehung und Bildung der Verschiedenen zu einer Gemeinschaft. Dort lernte ich integrativen Unterricht kennen, von Shimon Sachs von der Universität in Tel Aviv theoretisch begründet. Eine andere Exkursion führte in eine Schule in den Niederlanden, in der ich die Bedeutung des Raumes erkannte, es gab viel Grün und Tiere in den Klassenzimmern (der erste Pädagoge sind die Kinder, der zweite ist die Lehrkraft und der dritte der Raum, wie Reinhard Kahl das sagt). In der Schule gab es Lernprogramme im Sinne von selbstständigem kleinschrittigem Erlernen der Kulturtechniken, die von den Lehrkräften gemeinsam erstellt worden waren. Materialien zur Individualisierung des Unterrichts wurden in Kooperation entwickelt.

Ein Teil des Kollegiums der Schwerhörigenschule besuchte Mitte der 1980er Jahre Leicestershire und lernte dort die Integration schwerhöriger Kinder kennen, die in verschiedenen schulorganisatorischen flexiblen Formen Kindern und Jugendlichen den Besuch allgemeiner Schulen ermöglichte – die Bildungsratsempfehlung der Bildungskommission von 1974, die ähnlich flexible Lösungen gemeinsamen Lernens vorsah, wurde nach meinem Überblick nirgends in Deutschland konsequent umgesetzt. In den Sekundarschulen z. B. gab es in Leicestershire einen (Rückzugs-)Raum, in dem SchülerInnen bei hochgradig textbelastetem allgemeinen Unterricht den Stoff auf andere Weise bearbeiteten. Die Integration wurde schon im Säuglingsalter angebahnt. Es beginnt jetzt in einzelnen Städten in Deutschland, dass junge Eltern bzw. Mütter besucht werden nach der Geburt, das Kind willkommen geheißen wird und Hilfen angeboten werden – Inklusion wäre so von Geburt an möglich.

Die Aufenthalte in Israel, Niederlande und Leicestershire zeigten mir, dass integrative Pädagogik schulorganisatorische und unterrichtspraktische Veränderungen voraussetzt und gleichermaßen entwickelt. Bei den Exkursionen nach Südtirol, die ich mit den Studierenden unternahm, war die Steuerung von Bildungssystemen zentrales Thema. Die frühen Exkursionen haben meine Bilder von Schule geprägt; die Wahrnehmung konkreten pädagogischen Handelns, die sinnlichen Eindrücke können Vorstellungen und Ansprüche an die eigene Tätigkeit prägen. Die Bedeutung der Wahrnehmung neben der theoretischen Auseinandersetzung ließ mich auch bei meiner eigenen Lehrtätigkeit in Frankfurt Exkursionen anbieten in Schulen, die auf dem Weg zur Inklusion sind bzw. in einen Stadtbezirk in Bremen, in dem die Veränderung zu mehr Teilhabe Aller erfahren werden kann.

Eine frühere Arbeit zu Janusz Korczak hatte mich zu Begegnungen mit früheren MitarbeiterInnen von Janusz Korczak auf einem Kongress in Tel Aviv geführt. Korczaks Schriften und die humanistische Psychologie um Carl Rogers sowie die themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn sind Grundlagen meines pädagogischen Denkens geblieben.